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Es wird besser. Auch wenn es 6 Monate, 41 Tage und 54 Minuten dauert.

Über den Aufarbeitungsprozess nach psychischer Gewalt.

von Sylvie Mey (@sylvie__mey), ehemalige RE:START Teilnehmerin

Ich habe 37 Tabs offen.

Kurzer Pyjama Buttergelb, Matcha-Bananenpudding Vegan, Lasagne Form Bunt, Weihnachten Geschenkideen Partner, Koreanische Skincare Kaugummi Cleanser.

Die sind noch von vorher.

Dann: Wo beginnt häusliche Gewalt?, Was fällt unter psychische Gewalt?, Beratungsstelle Häusliche Gewalt, Telefon Seelsorge Nummer, Telefon Seelsorge wie oft anrufen ok?, Anwaltskanzlei häusliche Gewalt, Kostenfreie Rechtsberatung, Atemübung Panik, Digitale Anzeige Niedersachsen.

Die anderen 23 Tabs sind minimiert, da werden mir nur die kleinen Bildchen der Favicons mit Logos und bunten Anfangsbuchstaben in wiedererkennbaren Corporate Farben angezeigt.

54 Minuten haben gereicht, um mein Leben auf den Kopf zu stellen. Damit du, der mein sicherer Hafen sein wolltest, mir den Boden unter den Füßen entreißt – meine schlimmsten Ängste wahr werden lässt. Eines Nachts, in deinem warmen Arm liegend, hatte ich dir von ihnen erzählt. Und du hast aus meinen Befürchtungen ein Drehbuch geschrieben. Als wäre es dein Ziel gewesen, Szene für Szene, meine mentale Gesundheit zu Staub zu zertreten.

Zwischen mit grauem Puder überzogenen Umzugskartons warte ich. Vor 2,5 Jahren habe ich sie bei IKEA gekauft, in meiner alten Wohnung gepackt, ausgeräumt und zusammengeklappt in unseren Keller gestellt. Jetzt stehen sie wieder hier oben, füllen die angespannte Luft mit einem muffigen Geruch. Um meine Beine streichen die flauschigen Rücken meiner Katzen, auch der ganz Schüchternen, als wollten sie mich beruhigen.

Zu laut zerschneidet die Klingel die morgendliche Stille an einem Sonntag, der für mich um vier Uhr morgens mit Rastlosigkeit begann. Auch heute lässt mich meine beste Freundin nicht im Stich. Gleich kommt noch mehr Verstärkung, zur Sicherheit, damit unsere letzte Begegnung nicht böse enden kann.

Am Telefon wurde ich von der Sozialarbeiterin gewarnt, ich solle dich auf gar keinen Fall hereinlassen. Zu oft hat sie von Frauen* wie mir Anrufe bekommen, in denen diese Auszüge brutal geendet sind. Mit verwüsteten Wertsachen und gebrochene Knochen.

„Das würde er nie machen. Er ist nie körperlich geworden“, sagte ich.

„Hätten sie denn vorher je gedacht, dass er zu dem, was er Ihnen angetan hat, in der Lage ist?"

Laute Stille füllte das unsichtbare Netz zwischen uns, pulsierte in den Leitungen der Stadt.

„Nein.“

Die Polizei sagte, ich müsse dich hereinlassen. Die sich widersprechenden Meinungen pulsierten lästig in meinen Gehirnzellen, stritten und rauften sich um mich. Nicht meine Vernunft entschied, sondern der Wunsch, dass diese Zeit endlich vorbeigeht. Ich nie wieder das Gesicht sehen muss, das ich gestreichelt, geküsst und getröstet habe. Welches mir versprochen hat, mir nie wieder wehzutun, mir erst innerhalb von 54 Minuten und dann nochmal 41 Tage lang den größten Schmerz meines Lebens zugeführt hat.

In diesen 41 Tage habe ich um Hilfe gebeten. Immer wieder. Menschen, die ich sehr gut kannte, andere nur flüchtig. Einige gar nicht. Sie alle waren da, haben zugehört und geholfen, meinen Kopf zu sortieren. Diesen Menschen verdanke ich es, dass ich die 41 Tage überstanden habe.

Eine dieser Personen hat für mich gekocht, obwohl ihr selbst kotzübel war. Sie hat mich zu jedem Beratungsgespräch begleitet, hat meinen Kopf gestreichelt, wenn ich nachts von Albträumen aufgeschreckt wurde. Sie hat meine Arbeit erledigt, wenn ich nicht mehr konnte, wenn Tränen auf die Tastatur meines Laptops flossen. Sie hat die Katzen gefüttert, als ich nicht aus dem Bett kam, meine Haare gewaschen, wenn ich es nicht geschafft habe, mich von allein in die Dusche zu schleppen. Sie hat Nummern angerufen, als ich mich nicht getraut habe und noch heute ist sie bei mir. Obwohl es mir viel besser geht, bleibt sie.

„Nur zur Sicherheit, falls du mich doch brauchst“, lächelt sie mir zu, während ich meine Zähne putze. Meine bärenstarke Begleitung, die alles schaffen kann. Wenn ich im Supermarkt stehe und Panik meine Luftröhre hinaufkriecht, macht sie mit mir Atemübungen. 4 – 7 – 8. Vier Sekunden Einatmen. Sieben Sekunden Halten. Acht Sekunden Ausatmen. Nochmal. Vier Sekunden Einatmen. Sieben Sekunden Halten. Acht Sekunden Ausatmen. Und nochmal. Vier Sekunden Einatmen. Sieben Sekunden Halten. Acht Sekunden Ausatmen. Besser.

Mit ihr an meiner Seite traue ich mir jetzt mehr zu als vor den 41 Tagen. Meine Angststörung wird ganz kleinlaut, wenn sie im selben Raum ist.

„Wir haben in einer Woche mit der Frauenberatung, der Beratung bei häuslicher Gewalt, mindesten drei Hilfetelefonen, der Polizei und mehreren Anwältinnen telefoniert“, antwortet sie der Angst, wenn diese mal wieder behauptet, dass ich zu klein für diese Welt wäre. Die Angst brummt dann unzufrieden, gibt nur widerwillig auf. „Ich versuche es später nochmal“, behauptet sie. „Auch dann werde ich da sein“, kommt prompt als Antwort zurück.

Diese Bärin – ja, das ist jetzt kitschig – bin ich. Ich war in den schlimmsten 41 Tagen meines Lebens für mich da. In jeder Sekunde. Habe alles gegeben, als ich es am meisten gebraucht habe. Obwohl ich leer war, schon längst nicht mehr konnte. Ich habe weitergemacht, obwohl ich jeden Tag aufgeben wollte. Durchgeatmet, als ich dachte, mir bliebe die kalte Winterluft im Hals stecken.

All meine Liebe, meine zarten Worte, die rücksichtsvollen Gesten, die einst dir galten, schenke ich nun meiner inneren Bärin. Bei ihr bin ich sicher. Nie wieder wird sie jemanden wie dich an mich heranlassen, kennt die Warnsignale, die sogenannten Red Flags. Ich kannte sie auch, habe sie gesehen, dennoch ignoriert, wollte mir selbst beweisen, dass ich mich irrte. Wollte diese Liebe, die du mir versprachst. Aber ich irrte mich nicht. Deine Liebe füllte nicht mal ein Marmeladenglas. Ich trage Weinfässer mit mir herum.

Die 41 Tage sind mittlerweile über 6 Monate her. Vor mir stehen zwei neue Stühle, auf denen du noch nie gesessen hast. Ich trage ein Shirt, das du noch nie angefasst hast. Koche Gerichte, die du noch nie probiert hast. Ich gehe an Orte, an denen du noch nie warst und treffe mich mit Menschen, die du nicht kennst. Ich lebe ein Leben, das du nie wieder berühren wirst. Das Menschen wie dich nie wieder hereinlassen wird.

Ob ich noch an Liebe glaube? Vielleicht glaube ich erst seit Kurzem an Liebe. Denn das, was ich mal Liebe genannt habe, war keine – kann keine gewesen sein. Denn Liebe tut nicht so sehr weh, dass du denkst, dass die Luft zu dünn zum Atmen ist oder das tausende Kaktusstacheln in deinem Magen wohnen, obwohl es dort doch viel zu feucht und ätzend ist und es längst nicht genug Sonne für Photosynthese gibt. Liebe ist, was ich mir seit 6 Monaten, 41 Tagen und 54 Minuten schenke. Jeden Tag aufs Neue. Weil ich nicht weniger verdient habe als ehrliche, aufrichtige, sichere und gesunde Liebe. Weil alles, was diesen Adjektiven widerspricht, keine Liebe ist.

 
 
 

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